Geschichten aus dem Altbirkle – Teil 2
Erinnerungen und Gedanken des Altbirklehofers Felix M. Schoeller (1949 – 1957)
1949 – mit 9 Jahren auf den Birklehof
Sehr gut erinnere ich mich an die lange Autofahrt quer durch Deutschland vor 70 Jahren, denn es war nicht irgendeine Fahrt: die Fahrt von Osnabrück nach Hinterzarten im Mercedes. Die Autofahrt in einem Mercedes gehörte mit zur Ablenkungsstrategie meines Vaters, der sein leicht schlechtes Gewissen, seinen Sohn ins Internat „abzuschieben“, mit materiell vorzeigbarer und ablenkender Opulenz auszugleichen sich bemühte. Seine Art. Und obwohl die Nachkriegswirren in der Ehe meiner Eltern ein wesentlicher Grund für die Suche nach einem Internat gewesen waren, fuhren wir nach einem müde machenden Frühstart nun zu Dritt in einem schicken Auto und in voller Harmonie quer durch Deutschland, um zur Kaffeezeit im „Altbirkle“ bei meiner Patin Edith (Picht-Axenfeld) zu sein.
Für den folgenden Tag war meine Einschulung in die „Septima“ geplant (eine Vorklasse in der Französischen Zone der Nachkriegszeit). „Nun sind wir gleich da.“ Meine Mutter entpuppte sich als äußerst ortskundig: „Dort der „Hirschen“, wo Du wohl wohnen wirst als Kleiner. Edith hat mir am Telephon lachend diese Bezeichnung genannt. Rechts auf dem Hügel das „Haupthaus“. Ich hatte dir mal diese kleinen gezackten Photos gezeigt mit mir, meinem nicht so sportlichen Vetter Go (Georg Picht) und Otto Westphal beim Federballspiel im Innenhof des „Haupthauses“. Onkel Hans (Dr. Hans Wendelstadt) hatte uns in sein Sommerhaus eingeladen.“ Ich staunte. Dieses große Haus mit dem Zwiebelturm: ein „Sommerhaus“! „Wir biegen jetzt rechts ab zum Altbirkle“, fuhr meine Mutter fort, „geradezu überpünktlich! Wie immer, wenn dein Vater Regie führt.“ Es blieb ruhig im Auto, da wir bereits angekommen waren und unter einer mächtigen Birke vor einem geduckt daliegenden Holzhaus und neben einer Rampe parkten. Als auch schon aus der Tür mit weit ausgebreiteten Armen meine Patin uns entgegenkam. Warmherzige Begrüßung. Wir gingen ein paar Schritte, über eine Steinschwelle, durch die geöffnete, knarzende Holztüre in einen schmalen, etwas dämmrigen Flur. Linker Hand eine geöffnete Tür, die in einen etwas größeren Raum mit niedriger Decke führte. Im Flur eine große Holztruhe, auf der Mützen, Schals und Handschuhe abgelegt waren. Rechts Kleiderhaken und ein kleines Kämmerchen, um sich frisch zu machen. Nach oben hin eine relativ steile Holztreppe mit Geländer. Wir ordneten uns im schmalen Flur umeinander, als uns mit heller Stimme meine Patin in den etwas größeren Raum mit der niedrigen Decke bat. Links durch die kleinen Sprossenfenster sah ich den Mercedes vor dem Haus stehen. Edith hatte diesen tollen Wagen keines besonderen Blickes oder Satzes gewürdigt. Und ich wagte nicht, sie auf dieses schicke Gefährt aufmerksam zu machen. Irgendwie war für meine Patin so etwas wie ein großer toller Mercedes nicht von besonderer Bedeutung, während zu Hause in Osnabrück nicht Wenige sich länger über dieses Prachtmobil ausgelassen hatten und über mein Privileg, in diesem Firmenwagen durch ganz Deutschland kutschiert zu werden.
Hinein also in die „Stube“, wie der größere Raum genannt wurde, hinein zu Tee und Saft und freundlichem Miteinander. „Go lässt sich entschuldigen. Er ist oben im „Olymp“ und muss Dringendes erledigen.“ (Was es mit dem „Olymp“ auf sich hatte, kommt im folgenden Kapitel kurz zur Sprache.)
Als meine Patin nach dem Tee mir eine kleine Führung durch das Haus anbot, während meine Eltern vor dem Haus rauchen konnten, wies sie in der Stube noch auf den grünen Kachelofen hin. „Auf der Bank davor sitzen die Kinder gerne nach dem Skifahren und trocknen sich und wärmen sich auf. In den Regalen daneben liegen Spiele und ein paar Bücher, immer mal diese und jene. Denn am Kachelofen liest es sich auch besonders gemütlich.“ Meine Patin legte mir liebevoll ihre Hand auf meine Schulter und setzte die Führung fort. „Wir hoffen ja, dass Du immer mal wieder zu uns in den Altbirkle kommst, wenn Du ab morgen im Internat in die Schule gehen wirst.“ Dieser liebevollen Einladung bin ich in den kommenden acht Jahren nur sehr selten nachgekommen. Es waren zwei Welten. Heimweh hatte ich wenig. Und privat zum Schulleiter und dessen Frau zu gehen, das bildete für mich eine mentale Hürde gegenüber den Klassenkameraden und den Lehrern. Irgendwie wollte ich wohl denkbare Verdachtsmomente eines „besonderen Drahtes“ vermeiden.
Wir gingen im Eingangsflur zwischen Truhe und Treppe nach hinten. Ein kurzer Blick in die weitläufige Küche im Dämmerlicht. Altmodischer Herd, einfache Gerätschaften an der Wand, schlichte Töpfe auf den Herdplatten. Offensichtlich ein Kohlenherd oder mit Holz zu heizen. Wir in Osnabrück hatten natürlich die neueste Küche mit den neuesten Küchenmaschinen. Ich musste erst Ende zwanzig Jahre alt werden, um innerlich mit Überzeugung und Sicherheit dem Schlichten und „Altmodischen“ ihren gebührlichen Platz in meinem Leben einzuräumen.
Zu Hause hatte mein Vater auf heute mir unbegreifliche Weise bereits kurz nach dem Krieg einen erstaunlichen und für meine Mutter aufgrund vieler ringsherum noch bestehenden Notlagen unpassenden Lebensstil eingerichtet mit „Mädchen“ mit Schürzchen, die bedienten, mit Chauffeur und Gärtner. Im Altbirkle gab es auch „hilfreiche Geister“, aber da war nichts zum Vorzeigen und – wie ich es empfunden habe – auch nichts von Kälte und gebieterisch erzwungener Isolation. Schon die Architektur war da mitbestimmend: zu Hause die repräsentativen Räume mit entsprechend repräsentativer Einrichtung (mein Vater liebte altdeutsch); hier das aus Holz gebaute Haus, die sich daraus ergebenden Geräusche beim Gehen, Reden, Gäste im Haus bewirten, den Kindern Raum lassen. Mit aller Rücksichtnahme, versteht sich! Denn Störungen verbaten sich, wenn im „Olymp“ gedacht und geschrieben wurde oder wenn bis spät in die Nacht hinein Musik aus dem Musikzimmer das Haus durchdrang. Das Musikzimmer, dieser besondere Raum! Eine kurze Holzschwelle hinunter in den schmalen, länglichen Raum. Ein Flügel mit aufgelegter Decke, ein Cembalo, Holzständer für Noten, Regale mit Notenliteratur, Sprossenfenster mit Blick auf eine Wiese und in den „Bauerngarten“. Auf einem Tischchen (Kommode?) ein Photo vom Basler Platonkopf. Ein weiteres Photo mit Widmung von Béla Bartók. Meine Patin setzte sich an den Flügel und spielte ein Bach – Präludium. Dann erhob sie sich schwungvoll: „Du willst doch sicherlich Klavierunterricht haben wollen. Frau Westphal ist eine wundervolle Klavierlehrerin.“ So kam es dann auch, aber das Ergebnis, wenn ich bilanziere, ist doch eher dürftig zu nennen. Auch so eine lebenslange „Baustelle“.
1972 – 32 Jahre alt und als Referendar im Altbirkle
Wenn in der Zeit, als ich im Herbst 1972 als Referendar kurz im Altbirkle wohnte, meine Patin Edith nach dem Abendessen im Musikzimmer auf dem Cembalo oder Flügel spielte, war das alte Haus ganz in Schwingungen versetzt und ein Geist wohltuender Strenge und tiefernster Bemühung um das Verstehen der Musik ließ auch mich versammelt und umfassender meine Unterrichtsvorbereitungen machen. Der Altbirkle, ein Ort wohltuender Geborgenheit.
1971 im Sommer hatten M. und ich geheiratet. Zum Kennenlernen luden Edith und Go uns ein. Tee und freundliches, interessiertes Miteinander mit Edith in der Stube, dann gemeinsam hinauf in den „Olymp“, Gos Arbeitszimmer, wo wir mit herzlicher Zuwendung erwartet wurden. Dieser „Olymp“ war, wenn ich eine Reihenfolge bilden sollte, nach dem Musikzimmer die zweite Seele des Hauses. Ich erinnere den ausladenden Schreibtisch mit Büchern und Manuskripten; Bücher ringsherum; das geöffnete Fenster; warme Sommerluft; den Geruch des Pfeifenrauchs noch im Raum, aber nicht mehr als Gewölk; Edith gelenk auf einem Schemel. Wir tauschten uns aus. Vor allem M., Juristin, berichtete zustimmend und kritisch von ihren Berufserfahrungen als Richterin am Landgericht. Go umriss kurz, was ihn besonders beschäftigte; zur Verabschiedung als „Gastgeschenk“ ein Zitronenbonbon ….
Ich empfinde: Das Musikzimmer vor allem und dann der „Olymp“ bildeten die Seelen des Hauses. Noch ein drittes Zimmer, in dem ich ganz selten, meine Mutter öfters eingeladen wurden, rechne ich zu den Seelen des Hauses: das Zimmer von Gos Muttter, Greda Picht, geb. Curtius. Ein gedanklicher Austausch, mehr noch von Greda Picht geäußerte lebenskluge Kommentare, nüchtern und scharfsinnig, sind bis heute ein wertvoller Besitz in meinen Erinnerungen.
Es ließen sich noch weitere Seelen-Anwärter des Hauses aufführen, angefangen bei den vielen Bewohnerinnen und Bewohnern bis hin zum Raum mit dem „Platon-Archiv“. Aber es geht nicht um ein Ranking. Es geht in meiner Erinnerung um atmosphärische Gewichtungen, meine Gewichtungen.
2019 – nun bin ich 79 Jahre alt mit einer ganz neuen (gedanklichen) Verbindung zum Altbirkle
Wie oft habe ich selber schon den Spruch gehört oder ihn geäußert: „Nein, wie klein ist doch die Welt!“ Das meint, dass irgendein sog. Sonderbarer Zufall eine Verbindung herstellt oder aufzeigt, die ans Unwahrscheinliche grenzt.
Worum geht´s? Die Schwester meiner Schwiegertochter, Elisabeth Ilg, ist nach erfolgreicher Arbeit an der „Schirn“ in Frankfurt nach Freiburg gezogen und hat mit ihren reichen Erfahrungen aus der Schirn-Zeit das „Fundraising“ für den Altbirklehof übernommen. Ich war gerne bereit, ein paar meiner Erinnerungen an das besondere Haus aufzuschreiben, hatte ich doch von der Gefährdung, der das Haus ausgesetzt war, und sogar von einem drohenden Abriss erfahren.
Bis… ja, bis Willi Sutter, der renommierte Projektentwickler, sich zusammen mit vielen anderen der Sache angenommen hat. Wie viel Abrissbedrohtes hat Willi Sutter mit seinem besonderen Engagement schon gerettet! Hautnah hatte ich das über lange Zeit beim Kampf um das Gemeindehaus der Christuskirche in Freiburg-Wiehre miterlebt. Hautnah, weil meine Frau zusammen mit anderen sich hartnäckig gegen den Verkauf durch die evangelische Kirche und eine „Umwidmung“ in Eigentumswohnungen gewehrt hat. Besonders auch der ABC-Kreis (Arbeitskreis Behinderte an der Christuskirche) hätte durch einen Verlust seiner Heimstatt im Gemeindehaus unsäglich gelitten. Willi Sutter half wesentlich mit, das Gemeindehaus zu retten und zu bewahren. Dieses wichtige Haus ist auch der Ort des Gedenkens an den höchst bedeutsamen Konzilkreis („Freiburger Kreis“) des Widerstandes gegen den NS-Staat. Ich bin mir ganz sicher, dass Willi Sutter nicht nur die Funktionalität des Altbirkle in optimaler Form mit u.a. Lehrerwohnungen gestalten wird, sondern dass es ihm auch gelingen wird, die Seele des Altbirkle soweit wie möglich zu bewahren.
Gerne werde ich nach erfolgreichem Abschluss der Arbeiten zusammen mit Elisabeth Ilg von Freiburg nach Hinterzarten hinauffahren, um gleichsam als Zeitzeuge bekunden zu können, dass es sie noch gibt: die Seele des Altbirkle, des drittältesten, etwa 1550 erbauten und noch im Original stehenden Schwarzwaldhofes.
Anmerkungen:
Georg Pichts Vater, Dr. Werner Picht, ist der Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits. Deswegen sind meine Mutter und Georg Picht verwandt als Cousine und Vetter.
Die Mutter von Georg Picht ist Greda Picht, geb. Curtius. Greda Picht ist die Schwester des Romanisten Ernst Robert Curtius.
Die Anschrift des Verfassers:
Dr. Felix Martin Schoeller
Maximilianstraße 6
79100 Freiburg
mschoeller@t-online.de