Geschichten aus dem Altbirkle – Teil 5

Musizieren hatte im und um das Altbirkle eine große Tradition. Unser Altschüler Roland Krause (1937 bis 1944 am Birklehof) erinnert sich in diesem Artikel an die Liederabende in der Stube des Altbirkle zu seiner Schulzeit und einer damit verbundenen Chor-Reise nach Dänemark in unruhigen Zeiten:

Unsere Dänemarkfahrt 1943

Ich bekam kürzlich überraschend einen dicken Brief von meiner alten Schule, dem Birklehof, mit Namenslisten früherer Abiturjahrgänge, darunter auch die Namen meiner Klasse. Beim Durchlesen wurden mir plötzlich die Wochen vor dem Abitur wieder so lebendig, dass sie mich in der Nacht im Traum weiterverfolgten. Das wiederholte sich in der nächsten Nacht, sodass ich beschloss, die Bilder und die Erlebnisse aufzuschreiben, um sie zu bändigen. Das Folgende ist dabei herausgekommen:

Erstaunt war ich gleich anfangs, als ich merkte, dass viele einschneidende Zufälle in diesen letzten Schulwochen unseren Weg mitbestimmten. Es war im Herbst 1943, also in der Zeit nach der Schlacht von Stalingrad. In diesen Jahren hatte sich eine Schar von Oberstufenschülern zusammengefunden, die sich mit Begeisterung einmal in der Woche zum Volksliedersingen am Sonntagabend in der Bauernstube des Altbirkles traf. Zu dieser Gruppe gesellte sich unversehens ein neuer Schüler, Harald Böttcher, er kam aus einer unteren Klasse und musste in früheren Jahren in seiner alten Schule in einem Chor gesungen haben. Es schmerzte ihn wohl, bei uns darauf verzichten zu müssen. Er machte sich vorsichtig an uns heran mit der Frage und dem Vorschlag, ob er mit uns einen Madrigalchor gründen könne, dem er dann gerne selbst als Chorleiter vorstehen wolle. Im ersten Augenblick waren wir erst einmal baff und stimmten zu. Zufällig fand er bei uns auch mehrstimmige Noten in einem Schrank. Als wir unter seiner Leitung anfingen, machte er seine Sache sehr geschickt. Wir lernten eine ganz neue Welt der Musik kennen: Liedsätze von Orlando di Lasso, von Hans Leo Hassler, von Adam Gumpolsheimer, von Michael Prätorius. Harald war von uns begeistert, wie wir von ihm, in kurzer Zeit konnten wir schon ein kleines Konzert vor anderen Klassen geben und waren glücklich!

Da störte plötzlich ein weiterer Zufall diesen geglückten Anfang. Ein früherer Musiklehrer der Schule, Hermann Braunstein, der nach seiner Zeit bei uns zur Marine eingezogen worden war, kam auf seinem Heimaturlaub zu uns, hörte von unserem Chor und war so angetan, dass er einen verblüffenden Vorschlag machte: Wenn wir Lust hätten, organisiere er für uns eine Chorwoche in Kopenhagen. Dort müssten wir dann zwei bis dreimal am Tag auf Schi ff en, in Bunkern oder an anderen Orten ein kleines Chorkonzert geben als Auflockerung der für die Matrosen so abwechslungslosen Tage im Dienst­ betrieb. Sein Vorschlag löste bei uns eine ungeheure Wirkung aus. Wir versprachen alles zu tun, was wir dazu beitragen konnten. Zuerst musste die Schulleitung einverstanden sein, das gelang, da sie in dem Plan eine Möglichkeit sah, in anderen Ländern deutsches Kulturgut zeigen zu können. Kuchenmüller als Schulleiter wollte selbst mitfahren. Auch unsere Eltern mussten zustimmen, auch das klappte. Gefährlich waren nur die Zugfahrten, der täglichen Bombenangriffe wegen.

Da platzte wieder eine Nachricht in unser Planen hinein. Das Schulamt in Karlsruhe hatte unseren Abiturtermin von März auf Januar 1944 vorverlegt. Wann sollten wir dann noch lernen können, wenn wir vorher noch nach Dänemark fuhren?

Wir aber wollten auf jeden Fall los und sagten trotzig: Eine um Monate verkürzte Lernzeit sei nicht mehr zu ändern, dann sei ohnehin all es egal. Wir wollten nicht mehr zurück!

Da kam Braunsteins große Stunde. Er blieb noch eine weitere Woche bei uns und probte pausenlos. Er feilte an jedem Ton, an allen Vokalen. So hatten wir die Feinheiten unserer Sprache noch nie kennengelernt. Schnell konnten wir die Liedtexte auswendig, die Noten und Töne ohnehin. Wir erlebten erstaunt, dass ein Chor, der nicht mehr in die Noten schauen muss, viel stärker an seinem Leiter hing, da dieser dann mit kleinen Fingerzeigen feinste Wirkungen herausholen konnte, und wir, die wir auf Augenkontakte reagierten, auf sein Minenspiel, steigerten die Wirkung und ermöglichten einen tollen Erfolg.

Wir fuhren also los mit dem Zug und kamen nach langer Fahrt über Kassel, Hannover, Hamburg abends in Kopenhagen an. Welch ein Erlebnis! Wir, die wir in Deutschland seit Jahren nur verdunkelte Häuser kannten, kamen hier in eine heitere Stadt, in der alle Straßen und Schaufenster hell erleuchtet waren, wo die Geschäfte hinter großen Glasscheiben ihre Waren üppig anpriesen, wo nachts die Straßen von Einkaufenden überfüllt waren. Ein Paradies schien sich plötzlich vor uns auszubreiten. Irgendwo fanden wir dort unsere Bleibe. Anderntags wurden wir in Lastwagen an die jeweiligen Orte gefahren, wo das nächste Singen stattfinden sollte. Alles war neu und ungewohnt, überall hatten die Marinesoldaten kleinste Räumlichkeiten hergerichtet, wo sie zuhörenderweise fast zu unseren Füßen saßen. Diese Enge aber waren sie gewöhnt, denn auf den Schiffen schliefen sie in Hängematten in schmalen Gängen. Auch in den Bunkern ging es eng zu. Das machte uns beim Singen nichts aus. Wir brauchten nur Braunstein, wo er war, ging es uns gut. Wir mochten uns ein Ende hier gar nicht vorstellen.

Da kam plötzlich die Nachricht. Wir bekämen für unser Singen noch Taschengeld. Was aber wollten wir alles kaufen? Ich wusste es und saß wenig später wie ein Kaiser auf einem Thron in einem Schuhgeschäft und ließ mir von zwei eifrigen Damen schwarze Halbschuhe anpassen. So schöne Schuhe hatte ich in meinem Leben noch nie besessen.

überglücklich stiegen wir tags darauf wieder in den Zug, und verließen unser Paradies, es war kurz vor Weihnachten. Das Ziel hieß nicht mehr der Birklehof, sondern alle fuhren zur jeweiligen Heimatadresse. In Hamburg mussten wir umsteigen, sangen in der Bahnhofshalle schnell noch einmal vor erstaunten Passanten unser Programm. Nach den Ferien fanden wir uns wieder in Hinterzarten ein. Erneut wirbelte uns eine Nachricht auf vom Schulamt in Karlsruhe; unser Abitur werde doch erst im März stattfinden. Welch ein Jubel bei uns! Das machte uns fast übermütig, wir bastelten gedanklich daran herum, ob wir jetzt nicht noch etwas für uns herausschlagen könnten. Wir kamen darauf, jetzt, wo langsam alles egal sei, kämen wir doch am besten durchs Abitur, wenn in der Zwischenzeit all die Fächer ausfallen könnten, die nicht geprüft würden. Dann könnten wir uns noch besser ganz auf die Prüfungsfächer konzentrieren. Es klappte, Karlsruhe sagte auch dazu ja! Es war wohl ein Kriegsabitur.

Dann wurde festgelegt, dass man die schriftlichen Noten aus den Jahresklassenarbeiten ableiten solle. Die mündliche Prüfung fand tat sächlich noch im März im schönen Musiksaal der Schule statt, alle sollten gemeinsam geprüft werden. Man stellte die Tische in einer langen Hufeisenform auf. Als es losging, saßen die Fachlehrer in langen Reihen hinter uns und flüsterten sogar manches Stichwort zu. Das lockerte sehr auf zu einer fast heiteren Atmosphäre, niemand fiel durch. Der Vorsitzende des Schulamtes in Karlsruhe war uns wohlgesonnen und unterschrieb unsere Zeugnisse.

Kurz darauf packten die ersten schon ihre Koffer. Wir wollten sie aber noch mit einem Spaß verabschieden und liehen uns beim Nachbarbauern seinen Ernteheuwagen aus und bauten daraus ein Schiff, in das wir mitten hinein einen Mast aufstellten, mit Seilen festgezurrt. Anderntags mussten die Abfahrenden mit ihrem Gepäck einsteigen und los gings auf der Straße hinauf zum Hirschen und hinunter dem Dorf zu. Aber plötzlich versperrte ein Hindernis den Weg, die Bahnunterführung, die hatten wir im Eifer des Gefechts ganz vergessen. Wir steckten mit unserem hohen Schiffsmast fest. Welch eine Enttäuschung! Also, die Seile gelöst, den Mast umgelegt und schnell unter der Bahn durch. Dahinter, den Mast wieder hochgezogen und festgezurrt. Singenderweise haben wir den Bahnhof erreicht. Zwei Züge warteten schon, der eine wollte hinunter ins Höllental, Richtung Freiburg – der andere über Donaueschingen, Richtung Ulm. Wir vertrauten, dass sie warteten und sangen weiter. Dann ging alles sehr schnell, das Schiff ließen wir stehen, die Externen würden es zurückbringen. Alle liefen los, querfeldein über den alten Dorfsportplatz und die angrenzenden Wiesen zur Schule, dort packten wir jetzt selbst unsere Koffer, und ließen einen herzlichen Dank zurück!